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Blog-Beiträge

Der Entwicklungszielkreis im Kontext stationärer Jugendhilfe

Lisa Nolte absolviert derzeit am Kasseler Institut die Weiterbildung in Systemischer (Familien-) Therapie und Beratung. Sie erläutert in ihrem Beitrag, wie das im pädagogischen Kontext entwickelte Konzept des Entwicklungszielkreises in eine Jugendwohngruppe eingesetzt wird. Sie beschreibt die positiven Auswirkungen auf die Jugendlichen selbst, deren Familien sowie auf die Mitarbeiter*innen. Ohne es explizit zu benennen, zeigt der Beitrag ebenso, wie Kooperation und gegenseitiger Wissenstransfer zu einem Qualitätsmerkmal werden kann.

Der Entwicklungszielkreis im Kontext stationärer Jugendhilfe
Lisa Nolte, Juli 2024

1. Der Arbeitskontext

Seit drei Jahren arbeite ich in der evangelischen Jugendhilfe Obernjesa e.V. (EJO) als Teamleitung einer Jugendwohngruppe in Lenglern. Die Einrichtung umfasst intensivpädagogische Wohngruppen, Regelwohngruppen, flexible ambulante Hilfen, Tagesgruppen sowie eine Schule mit drei Klassen für den Förderschwerpunkt sozial/emotionales Lernen. Das Konzept der EJO beinhaltet den lösungsorientierten Ansatz, welcher einen Ansatz der systemischen Therapie darstellt.

Es gilt: „Aufbauend auf dieser respektvollen und von Wertschätzung getragenen Grundannahme sind wir der festen Überzeugung, dass nur die Kinder/Jugendlichen/Familien selbst wissen können, welche Lösungen zu ihrem persönlichen Lebensweg passen und „wohin ihr Weg gehen soll“. Deshalb interessieren uns die Ziele der jungen Menschen und ihrer Familien. Wir unterstützen sie darin, Ideen zu entwickeln, wie sie in kleinen Schritten diese Ziele in ihrem Leben umsetzen werden“ (EJO – Evangelische Jugendhilfe Obernjesa e. V. (jugendhilfe-obernjesa.de), letzter Aufruf 08.06.2024).

Um diesen Leitgedanken auch den MitarbeiterInnen nahe zu bringen, wird sichergestellt, dass alle neuen KollegInnen bei der zweitägigen internen Fortbildung zum lösungsorientierten Arbeiten teilnehmen.

„Resultierend aus den Anfängen im Pfarrhaus in Obernjesa wurde 1952 der Verein ‚Evangelisches Kinderheim Obernjesa e. V.‘ gegründet. Damit war der Startschuss zum kontinuierlichen Ausbau und ab Beginn der 1970er Jahre auch zur Dezentralisierung der Einrichtung gegeben. 1997 wurde der Name von ‚Kinderheim‘ in ‚Jugendhilfe‘ geändert. Ein Jahr später gründete dieser neu benannte Verein die EJO-Borna gGmbH. Damit verbunden war die Übernahme der Trägerschaft verschiedener Jugendhilfeeinrichtungen des Landkreises Torgau-Oschatz durch die gGmbH. Die EJO ist den Rahmenverträgen nach § 78 f SGB VIII (KJHG) in Niedersachsen und Sachsen beigetreten. Dementsprechend liegen Leistungsbeschreibungen sowie Vereinbarungen über Leistungsumfang und Qualitätsentwicklung der verschiedenen Teileinrichtungen vor, die für die Einrichtungen in Niedersachsen mit dem Landkreis Göttingen und in Sachsen mit dem Landratsamt Torgau-Oschatz abgeschlossen werden.“ (EJO – Evangelische Jugendhilfe Obernjesa e. V. (jugendhilfe-obernjesa.de), letzter Aufruf 26.10.2024).

2. Lösungsorientierter Ansatz im sozialpädagogischen Kontext – Der Entwicklungszielkreis

Vor zwei Jahren durfte ich mit fünf weiteren MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen der EJO nach Freiburg im Breisgau zu den Freiburger Impulstagen fahren. Dort kamen soziale Einrichtungen aus ganz Deutschland und der Schweiz zusammen, um sich lösungsorientiert in Workshops auszutauschen. Dabei wurde ich unter anderem auf den Entwicklungszielkreis (Ezk) aufmerksam, welcher 2010 in St. Anton entwickelt wurde. Bis dato existierte zwar §36 SGB VIII, welcher die Mitwirkungspflicht der Jugendlichen forderte, die Realität sah und sieht auch heute noch oft anders aus. Gerade in den Wohngruppen kommt es häufig vor, dass die Jugendlichen in einem konfliktbehafteten Verhältnis zu ihren Eltern stehen. Tage vor einem Hilfeplangespräch (HPG) sind sie gereizt, angespannt, schlafen schlecht und wollen nicht mehr in die Schule gehen.

Durch den Ezk wird es ermöglicht, dass die Jugendlichen/ Kinder vor, während und nach dem regulären Hilfeplangespräch (HPG) einbezogen werden. So wird nicht mehr nur über sie gesprochen, sie leiten sogar im besten Fall das Gespräch. Der Zielkreis ermöglicht es den Jugendlichen für sich selbst und über ihre Ziele zu sprechen. Probleme/ Konflikte werden positiv formuliert. Es geht um die Gestaltung einer positiven Zukunftsvorstellung. Ressourcen stehen im Fokus und werden von den wichtigen involvierten Instanzen verbalisiert. Es wird versucht, mit den Jugendlichen und Eltern eine Situation zu gestalten, in denen sie sich als kompetent und erfolgreich wahrnehmen.

Unsere Einrichtung arbeitete bisher nur in den Tagesgruppen nach dieser Methode. Ich machte es mir zur Aufgabe, diesen für die Jugendwohngruppen anzupassen. Eine Vorlage des Ezk ist auf den folgenden Seiten eingefügt. Dazu war es auch nötig, die einrichtungsinterne Vorlage des Situationsberichts zu verändern. Viele Teile wurden gestrichen und durch neue lösungs- und ressourcenfokussierte Überschriften ergänzt. Es war nicht mehr wichtig zu erwähnen, was uns aktuell Sorgen bereitet oder wie die Zusammenarbeit mit den Schulen/ ÄrztInnen funktioniert. Stattdessen geht es nun um
„Was hat in der Vergangenheit gut funktioniert? Welche kleinen Schritte/ Veränderungen gab es?“ Seit einem Jahr arbeiten wir nun mit diesem Konzept und konnten gute Erfahrungen machen. Auch heute noch befinden wir uns im Entwicklungsprozess und passen das Konzept oder Vorgehensweisen individuell an. Die Rückmeldungen der Jugendlichen sind jedoch überwiegend positiv und die Hilfen langfristig effektiver. Und auch wenn es weiterhin Jugendliche gibt, die Angst vor den HPG’s mit den Jugendämtern und ihren Eltern haben, so wird sichergestellt, dass die Ziele der Jugendlichen an erster Stelle stehen, was ihnen enormen Druck nimmt. Außerdem werden diese Termine sorgfältig mit den Jugendlichen vor- und nachbereitet. Vor jedem HPG wird weiterhin ein Bericht über das letzte halbe Jahr geschrieben. Die Jugendlichen lesen ihn gemeinsam mit den BezugsbetreuerInnen im Sinne der Partizipation durch und dürfen korrigieren und mitbestimmen, was hineingeschrieben und wie es formuliert wird, bevor er an das Jugendamt und die Eltern verschickt wird. Einmal im Monat setzen sich BezugsbetreuerInnen und Jugendliche zusammen und führen ein Zielgespräch.

a. Ablaufplan Entwicklungszielkreis
Im Mittelpunkt steht: „Was hat sich in den letzten Monaten verbessert oder was hast Du verbessert?“

Vorbereitung
i. Der Situationsbericht wird geschrieben. In diesem wird in eine Tabelle zu Anfang ausgefüllt, was die letzten drei Ziele des vergangenen halben Jahres waren. Sie werden skaliert zu der Fragestellung, wo auf der Skala nach eigenen Einschätzungen das Ziel heute erreicht wurde. Dazu werden die Einschätzungen von Eltern und Jugendlichen eingeholt, sowie die BetreuerInnen ihre Einschätzung abgeben.

ii. Mit den Jugendlichen wird besprochen, wer an dem HPG teilnehmen wird. Evtl. können Eltern nicht teilnehmen, weil kein Kontakt besteht. Dann wird mit den Jugendlichen gemeinsam überlegt, zu wem er/sie stattdessen eine gute Beziehung hat und wer daran teilnehmen soll. Das können z.B. die Mutter des eigenen Partners sein oder ein ehemaliger Stiefvater. Es wird überlegt, von welcher Person es wichtig wäre, dass die Jugendlichen hören, was sie alles können und was positiv ist. An die Instanzen, welche im EZK auftauchen, wird vorab der Vorlagen-Zettel mit der Beschreibung, was zu tun ist, geschickt.

1. In den Umschlag kommen außerdem viele runde Zettel (Was läuft gut) und 2-eckige Karten (Für Erwartungen und Wünsche).
2. Farbzuteilungen:
Rot = Kind
Grün = Schule/ Therapie
Blau = Gruppe
Gelb = Eltern
Orange = Sonstige

Dies sind nur Beispiele. Es können auch Instanzen weggelassen oder ausgetauscht werden. Es können auch nur 3 oder 4 Instanzen im EZK genannt werden. Platz ist für 5.

iii. Teamsitzung
1. Alle sammeln, was hat sich bei dem/ der Jugendlichen verbessert (die Pädagogen schreiben es auf runde Moderationskarten (blau), inkl. Skalierung: Wo war der/die Jugendliche vor 6 Monaten und wo jetzt? (Fokussierung auf das, was sich „spürbar/messbar“ verbessert hat (Bsp: Du bist immer bei dem Jugendteam dabei, 5->9).
2. Möglichst kleine konkrete Dinge nennen. Nicht: Du bist selbstständig, sondern Woran genau zeigt sich, dass er/ sie selbstständig ist?
3. Was sind aus unserer Sicht die 2 wichtigsten Wünsche oder Erwartungen für die kommenden 6 Monate? (auf die zwei eckigen Karten)

iv. Vorbereitung mit Jugendlichen:
Der/ die BezugsbetreuerIn und Jugendliche/r setzen sich zusammen und der/die Jugendliche/r soll auf zwei eckige rote Karte die Ziele für das nächste halbe Jahr schreiben.

Hauptteil:

Original Vorlage und veränderte Vorlage


 

 

 

 

Das Entwicklungszielkreisgespräch
Vor dem HPG:

Die Jugendlichen werden gefragt, ob sie bereit sind, ihre runden Karten selbst vorzustellen. Mit dem Jugendamt wird geklärt, ob es ok ist, wenn wir die Moderation übernehmen. Das Plakat vom Zielkreis hängt und ist mit den Instanzen beschriftet. Wenn es einen Teil gibt, der ohne Jugendliche besprochen werden soll, wird dies vorher mit Jugendlichen/ Eltern/ JA besprochen. Dieser Teil findet nach dem EZK statt. Die Jugendlichen haben dann die Möglichkeit den Raum zu verlassen.

Während des HPG’s:

  • Ab dem 2. EZK-Gespräch werden zu Beginn die Ziele des vorangegangenen HPGs genommen mit der Frage: „Auf einer Skala von 1 -10 bedeutet die 10: Du hast dieses Ziel vollständig erreicht und die 1 das Gegenteil. Was denkst du, wo du jetzt in Bezug auf dieses Ziel stehst?“ Danach runden die Jugendlichen die jeweiligen Ecken mit der Schere ab, nach dem Motto: „Aus Eckig wird Rund!“. Die Jugendlichen schätzen sich ein, wo auf der Skala sie jetzt sind und entsprechend werden die Ecken abgerundet. Es können auch nur zwei Ecken abgeschnitten werden (Ziel wurde zur Hälfte erreicht). Diese Ziele werden nicht weiter kommentiert oder bewertet, sondern zu den runden Karten in den Außenbereich gehängt.
  • Die Jugendlichen stellen ihre runden Karten vor und pinnen sie in das entsprechende Feld.
  • Fragen, wer als nächstes vorstellen darf. Die Instanz steht auf, stellt vor, Jugendliche pinnen währenddessen an. Gerne nachfragen: „Woran sehen Sie, dass der/ die Jugendliche das schon kann? Wie ist es auf einer Skala im Vergleich zu vor einem halben Jahr?“
  • Nachdem alle vorgestellt haben:
    – Wie geht es den Jugendlichen damit, Ressource xy zu hören?
    – Wie hat sich Ressource xy im letzten halben Jahr verändert? Wie hast du das geschafft?
    – Welcher Punkt überrascht (dich/die Eltern) am meisten?
    – Wo merken wir dieses Verhalten am meisten?
    – Kannst du annehmen, dass wir dich so sehen? Wenn nein, wie können wir dich dabei unterstützen?
  • Die Ziele (eckige Karten) der Jugendlichen stellen die Jugendlichen selbst vor und pinnen sie entweder in den 3. Kreis von außen oder unter den EZK Wichtig: die Jugendliche können sich selbst ihre Ziele suchen. Alles andere, was die Instanzen nennen, sind bislang nur Wünsche/ Erwartungen.
  • Wünsche/ Erwartungen (eckige Karten) stellen die anderen Instanzen selbst vor und pinnen sie ebenfalls an den EZK. Dabei soll idealerweise folgende Formulierung genutzt werden: Ich wünsche mir von dir… Auch hier wieder nachfragen:
    – Wofür wäre es gut, dieses Ziel zu erreichen?
    – Wie würde xy merken, dass das Ziel erreicht wurde?
  • Wenn alle eckigen Karten hängen, darf sich der/ die Jugendliche maximal drei dieser Karten aussuchen, an denen er/ sie im nächsten halben Jahr arbeiten möchte. Wichtig ist hier: Die Auswahl wird nicht bewertet oder beurteilt.
  • Der zweite Ring steht für „Was ist außerdem wichtig und sollte nicht aus den Augen verloren werden?“
  • Variante: Die Jugendlichen dürfen sich nur zwei Ziele aussuchen und das 3. Ziel stellt die Bedingung, welche zum Maßnahmenrahmen gehört, dar. Bsp: Bedingung ist: Der Jugendliche muss clean werden, der Jugendliche muss einen Entzug machen, der Jugendliche muss einer Beschäftigung nachgehen….

Nach dem Entwicklungszielkreis
Es wird ein Foto von dem Ezk gemacht, welches die gesammelten Ressourcen festhält und dokumentiert. Hier ist der EZK beendet. Wenn es nun Themen ohne Jugendliche gibt, die z.B. Elternarbeit betreffen oder andere Formalien, sollte der/ die Jugendliche das HPG verlassen. Es muss ein klarer Cut stattfinden, damit Ergebnisse aus dem EZK nicht zunichte gemacht werden. Gibt es Konflikte/ Probleme die ebenfalls mit dem Jugendamt gemeinsam besprochen werden müssen, sollte ein neuer Termin ausgemacht werden. Es geht im HPG ausschließlich um die Fortschritte und

Entwicklung der Jugendlichen. Da die vorangegangene Ressourcensammlung auch etwas bei den Eltern auslöst, wäre ein Cut für die langfristige Nachwirkung auch für sie von Vorteil. An dieser Stelle gibt es das Angebot meiner Seite, zukünftig Beratungsgespräche in Anspruch zu nehmen oder einen externen anderen Termin zu finden. Leider sind mir jedoch oft die Hände gebunden, da die Jugendlichen oder ein Elternteil diese Beratung meinerseits nicht möchten. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Die Jugendlichen sehen mich oft als Verbündete und haben Sorge, dass ich mich auf die Seite der Eltern schlagen könnte, zudem wollen sie oft der Konfrontation mit den Eltern aus dem Weg gehen oder das Verhältnis ist schon so zerrüttet, dass sie mir schlichtweg verbieten, mich mit ihnen in Verbindung zu setzen, aus Sorge, ich könnte mich mit ihnen über sie unterhalten. Aus Sicht der Eltern stelle ich oft eine Konkurrenz dar, da ich mehr Zeit mit ihnen verbringe als sie. Zudem sehen sie mich ebenfalls oft als eine Verbündete der Jugendlichen. Einfacher wäre eine Beratung mit Jugendlichen/ Eltern aus anderen Gruppen, mit denen ich nur im Kontext der systemischen Beratung tätig wäre. Dies kann ich neben meiner normalen Tätigkeit aus zeittechnischen Gründen jedoch nicht anbieten.

Nachbereitung
In der darauffolgenden Woche (spätestens 2 Wochen nach dem HPG) bespricht die Bezugsbetreuung mit den Jugendlichen die eckigen Karten und diese entscheiden sich zunächst für ein Ziel, an welchem sie die nächsten Wochen arbeiten möchten. Dazu nehmen wir die SMART-Card zu Hilfe (Jeweils eine für die Jugendlichen und eine die für UnterstützerInnen), welche die Jugendlichen handschriftlich ausfüllen. Fragestellungen der SMART-Card für die Jugendlichen:

  • Wieso lohnt sich die Anstrengung dieses Ziel zu erreichen?
  • Skala: Wo stehst du jetzt und wo willst du hin? Wie hast du es zu dem bisherigen Punkt geschafft? Wie fühlt sich der Wunschpunkt an? Was ist dann anders? …
  • Mein erster kleiner Schritt, um dieses Ziel zu erreichen: …
  • Unterstützen kann mich dabei: … (wer, was, wieso?)
  • Dass ich mein Ziel verfolge erkennen: … (wer und woran?)
  1. Über dieses erste Gespräch führt der/die Bezugs Betreuerin Protokoll, welches mit der ausgefüllten SMART-Card und dem Foto von dem EZK an die Eltern und das Jugendamt geschickt wird, damit auch diese sehen, woran die Jugendlichen arbeiten. Das muss nur nach dem ersten Zielgespräch gemacht werden.
  2. Die SMART-Card wird kopiert und in der Akte der Jugendlichen abgeheftet. Das Original bekommt der/ die Jugendliche mit auf das Zimmer, wo sie an die Tür, Schrankinnentür oder die Wand geheftet wird, um es nicht aus den Augen zu verlieren.

Die besprochenen Ziele werden dann von der/dem Bezugs-BetreuerIn in der Teamsitzung vorgestellt, damit alle mit dem Jugendlichen gemeinsam daran arbeiten können. Ist ein Ziel erreicht, darf sich der/ die Jugendliche ein neues Ziel aussuchen. Die eckige Karte wird rund geschnitten. Es kann natürlich passieren, dass ein Ziel nicht erreicht wird oder sich unter Umständen ändert. Dies wird jedoch nicht als Problem gesehen, sondern als Erfahrung und gemeinsam mit den Jugendlichen besprochen.

Zusätzlich zu den Smart-Cards werde ich eine kleine Begrüßungsbox für alle Jugendlichen erstellen. In dieser sind verschiedene Materialien wie z.B. eine Murmel, eine Skala, ein Schlüsselanhänger, Taschentücher, etc. Dazu bekamen sie bereits ein ein kleines Heft. Das Cover durften sie bei den Jugendteams selbst gestalten. Auf den ersten Seiten sind Infos über LOA und unsere Einrichtung.
Beispiel:Herzlich willkommen bei uns!
Dies ist deine persönliche Begrüßungskiste, um dir unsere Idee des Zusammenlebens näher zu bringen und damit du dich gut einleben kannst.

Was heißt LOA?

LOA ist der „lösungsorientierte Ansatz“. Wir gehen davon aus, dass du ExperteIn in allem bist, was dich betrifft. Du weißt am besten, wie es in dir drin aussieht. Wir sind dafür da, um dir dabei zu helfen, das passende Werkzeug zu finden. So können wir versuchen, dich als „ExpertIn“ so gut es geht zu unterstützen und dir dabei zu helfen uns mitzuteilen, was und wie etwas getan werden muss. Der lösungstheoretische Ansatz ist also nichts anderes als eine Einstellung, welche uns in der pädagogischen Arbeit dabei helfen soll, Handlungswege und Schritte mithilfe von unterschiedlichen Materialien zu vereinfachen und die Arbeit spielerisch zu gestalten.
Ein paar unterstützende Materialien findest du schon in diesem Buch und deiner Box.
Auf den folgenden Seiten findest du die wichtigsten Infos über unsere Wohngruppe. Darüber hinaus bleibt hinten sehr viel Platz für schöne Erinnerungen. Jeder darf wann immer er/ sie möchte, in dein Buch etwas Schönes schreiben. Das können Erinnerungen und Ereignisse sein oder Stärken die uns an dir aufgefallen sind. Wenn du dann irgendwann wieder ausziehst und einen neuen Weg einschlägst, darfst du dieses Heft mitnehmen und kannst dich an all die kleinen schönen Dinge des Alltags erinnern.

Die Hefte liegen im Büro und die Jugendlichen können füreinander etwas reinschreiben. Sie müssen jedoch vorher die BetreuerInnen fragen. Somit wird verhindert, dass nach einem Streit negative Dinge hineingeschrieben werden. Auch die BetreuerInnen dürfen etwas hineinschreiben. Manchmal nehmen wir die Bücher auch bei Jugendteams dazu. Dann werden sie der Reihe nach durchgegeben und mit Unterstützung von Fragestellungen können die Jugendlichen dann für jeden etwas in das Buch schreiben. Das können Fragen sein wie z.B.: Das schätze ich besonders an dir, daran erinnere ich mich gerne zurück, Das ist dir in letzter Zeit gut gelungen, …

3. Der lösungsorientierte Ansatz

Nach der Fachtagung in Freiburg hatte ich zudem die Möglichkeit mit vier KollegInnen aus meiner Einrichtung eine einjährige Ausbildung zur Multiplikatorin in der Stiftung Beiserhaus zu machen. Sie setzte sich in aus fünf Modulen zum lösungsorientierten Ansatz zusammen. Es wurde viel praktisch ausprobiert und über die eigene Haltung gesprochen. Daraus ergab sich, dass wir beschlossen das gelernte Wissen auch den anderen MitarbeiterInnen unserer Einrichtung vermitteln zu wollen. Wir setzten uns zusammen und entwickelten über mehrere Monate ein Konzept. Daraus entstanden acht Lerngruppen, in denen MitarbeiterInnen Methoden der lösungsorientierten Haltung praktisch ausprobieren können.
Folgende Themenworkshops werden in einem Zeitraum eines Jahres angeboten:

1. Lösungsorientiertes Loben
2. Reframing
3. Wunderfrage/ Fragetechniken
4. Skalierung
5. Oasengespräche
6. Erstgespräche in der Beratung
7. Konfliktgespräche
8. Reflecting Team

Diese Workshops wurden in Zweierteams von uns ausgearbeitet. Der erste startete am 24.05.2024. Ein Workshop soll maximal drei Stunden gehen. Die MitarbeiterInnen können sich nur für alle Workshops bewerben, um die Motivation in der Auseinandersetzung durch die Freiwilligkeit zunächst zu erhalten und eine feste Lerngruppe zu haben. Insgesamt können 20 MitarbeiterInnen im ersten Jahr teilnehmen.

Um es den Mitarbeitenden leichter zu machen, soll jede Wohngruppe langfristig einen LOA-Rollwagen bekommen. Daran arbeiten eine Kollegin und ich zurzeit noch. Auch die Frage der Finanzierung muss noch geklärt werden. Ins Auge gefasst haben wir dabei folgende Sammlung, welche sich mit Materialeien des systemischen Arbeitens als hilfreich bewiesen hat:

  • Sanduhren in verschiedenen Formaten (welche nach 1-30 min ablaufen)
  • Story Cubes
  • „Wie war dein Tag?“ Das Familien-Erzähl-Spiel von Fenya Rechel
  • Einen Wasserball mit verschiedenen Fragestellungen („Worauf bist du stolz?“, „Mir ist positiv aufgefallen, dass … .“, „Ich bin beeindruckt, wie … .“, „Was ist dir in letzter Zeit gut gelungen?“, „Womit hat dir jemand eine Freunde gemacht?“, „Welche Stärken schätzt du an dir?“, …)
  • Einen Leitfaden für ein lösungsorientiertes Gespräch
  • Systemische Methoden (aktives Zuhören, Bewältigungsfragen, Wunderfrage, W- Fragen, zirkuläres Fragen, Beziehungsfragen, …)
  • Eine Talk-Box Vol.11 Für Teams – Kommunikation, Motivation, Teamgeist, 120 Impulskarten von Neukirchner
  • „Bärenstarke Gedanken“ Karten für Prüfungssituationen, 32 Affirmationen von Saskia Baisch-Zimmer & Michaela Zach
  • „Wegweiser für Perlentaucher“ Systemische Interventionen für die Ressourcenaktivierung, Beltz Verlag
  • Materialien zur Skalierung (Bindfäden, Zahlen, Symbole, Zollstock, etc.)

Diese Materialsammlung kann für Zielgespräche, Fördergespräche, Beratungsgespräche oder auch im Alltag bei Jugendteams oder bei Teamsitzungen und Fallbesprechungen genutzt werden. Sie ist für die MitarbeiterInnen, sowie die Jugendlichen geeignet.

4. Reflexion des Arbeitsprozesses

Rückblickend war mein gesamter Arbeitsprozess zu LOA eine sehr große Chance und es fühlt sich fast an, als hätte LOA mich gefunden, angefangen mit den Einführungsworkshops meiner Einrichtung für neue MitarbeiterInnen. Als ich dann in Freiburg bei den Impulstagen war, habe ich erst gesehen, wie groß und vielfältig dieser Teil der systemischen Beratung ist. Die einfachsten Materialien können metaphorisch für Gefühle oder Ziele stehen. LOA kann spielerisch für Erwachsene und Jugendliche/ Kinder in der systemischen Arbeit eingesetzt werden. Scheinbar einfache Fragen können sehr schwer zu beantworten sein und den Grundstein für ein tieferes Bewusstsein seiner selbst schaffen. Das Wissen des lösungsorientierten Ansatzes durfte ich nun in meiner Weiterbildung zur systemischen Beraterin am Kassler Institut vertiefen. Ich konnte meine Erfahrungen aus der Praxis mit dem Wissen aus der Theorie verknüpfen und in der Jugendwohngruppe umsetzen. Ich schätze im Systemischen sehr den Ansatz, die KlientInnen als ExpertInnen zu betrachten und genau das schafft der lösungsorientierte Ansatz durch Fragetechniken zu vermitteln. Es gibt kein richtig oder falsch. Auch hier wird deutlich, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Reframing wird nicht nur für ExpertInnen möglich. Es wird angenommen, dass die selbst formulierten Lösungsansätze die richtigen für die KlientInnen sind. Es entsteht ein wertfreier Raum und die Selbstwirksamkeit wird aktiviert.

Als Begründer des Ansatzes wurden Steve de Shazer und Insoo Kim Berg in Amerika bekannt. Diesen Ansatz übertrugen dann Marianne und Kaspar Bäschlin in der Schweiz in die Pädagogik. Ich durfte die beiden sogar persönlich in Freiburg treffen und mich mit ihnen über den Ezk unterhalten.
Als ich beschloss, den Entwicklungszielkreis in der Wohngruppe zu etablieren, lud ich einen ehemaligen Mitarbeiter einer Tagesgruppe der EJO ein. Er hatte damals den Ansatz durch die Bäschlins gelernt. Gemeinsam mit ihnen hatte er den Entwicklungszielkreis in der Tagesgruppe der EJO eingeführt. Er kam also und erzählte unserem Team wie sich das Vorgehen und Planen gestaltete, sowie welche Fragen notwendig sind. Es wurde schnell klar, dass sich diese Methode nicht eins zu eins in der Wohngruppe umsetzen lässt und nicht nur eine Methode, sondern auch eine Haltung ist. Zunächst arbeitete die Tagesgruppe sehr eng mit hausinterner Schule zusammen. Da die Jugendlichen jedoch auf unterschiedliche Schulen, zu Ausbildungen oder Schulersatzmaßnahmen gehen, hatte der Ezk in diesem Feld eine eher kleinere Rolle. Die Problematiken der Jugendlichen unterschieden sich zu denen der Kinder in der Tagesgruppe. Also entwarf ich einen etwas anderen Ezk mit einem etwas anderen Vorgehensleitfaden. Es gibt nun fünf statt vier Felder. Und die involvierten Instanzen stehen nicht mehr in den Ringen, denn sie können individuell ausgetauscht werden, je nachdem wer am HPG teilnimmt. Ich ließ einen Ezk auf LKW-Plane drucken, damit wir diesen immer wieder mit Folienstift beschriften und bei externen HPG’s mitnehmen können. Zudem gestaltete sich die Elternarbeit in der Wohngruppe anders als in der Tagesgruppe. Die Tagesgruppen sind meistens der letzte Versuch, einer Inobhutnahme entgegenzuwirken. Die Eltern bekommen enge Unterstützung in der Versorgung und im Umgang mit den Kindern. Dies fällt mit der Unterbringung in einer Wohngruppe weg. Dazu kommt, dass viele der Jugendlichen selbst Hilfe beim Jugendamt gesucht haben und sich in Obhut haben nehmen lassen.

Nachdem also für das Team klar war, dass der Entwicklungszielkreis sicher keine Erleichterung des Arbeitsaufwands war und wir das Jugendamt ins Boot holen müssen, da sich der Ablauf eines normalen Hilfeplangesprächs ändern würde, setze ich mich daran einen genauen Ablaufplan zu erstellen, an dem sich das Jugendamt und das Team orientieren konnten. In diesem stehen lösungsorientierte Fragestellungen, die auf die positive Vergangenheit und Zukunft abzielen. Dann nahm ich Kontakt zum Beiserhaus auf, da ich wusste, dass ihre Einrichtung LOA buchstäblich lebt. Ich hatte sie bereits in Freiburg kennengelernt. Ich durfte mit meinem Bereichsleiter und einer anderen Kollegin für einen Tag in die Einrichtung kommen und mir Materialien ansehen, sowie viele Fragen zum Thema stellen. Ein paar Monate später bekam mein Bereichsleiter dann das Angebot vom Beiserhaus, fünf MitarbeiterInnen der EJO zu MultiplikatorInnen auszubilden. Diese „Ausbildung“ gab es bisher nur für interne Mitarbeitende der Stiftung Beiserhaus. Da wir jedoch großes Interesse an ihrer Arbeit und Haltung zeigten, bekamen wir die Chance, uns dafür zu bewerben. So kam es, dass ich mit vier KollegInnen aus meiner Einrichtung aus den Bereichen flexible ambulante Hilfen, Tagesgruppe und Wohngruppe die einjährige Ausbildung machen durfte.

Rückblickend hat mich dies im Zusammenhang mit der parallel laufenden Ausbildung zur systemischen Beraterin sehr geprägt und bestätigt. Denn ich stellte fest, dass mir die Ausbildungsseminare des Kassler Instituts zwar sehr halfen, jedoch die terminlichen Abstände zu groß waren. Ich brauchte mehr Praxis. Wie schon erwähnt, war es für mich sehr schwer Beratungen anzubieten, da die Jugendlichen entweder keine Lust darauf hatten, weil sie ohnehin schon zur Therapie gingen oder weil die Eltern aus oben genannten Gründen kein Interesse daran haben.
Durch die Anpassung und Etablierung des Entwicklungszielkreises änderte sich nicht nur der Ablauf und die Verantwortung für die Jugendlichen oder das Jugendamt. Den Jugendlichen war es zunächst unangenehm eine „warme Dusche“ zu bekommen. Dann waren sie erstaunt über das Positive, was ihre Eltern und die BetreuerInnen sehen konnten. Sie wurden mutiger und standen mehr für ihre Ziele ein. Sie wurden besser darin. ihre Stärken zu nennen. Sie lernten zirkuläres Fragen und das „Was noch?“ auszuhalten und länger als 2 Sekunden über sich nachzudenken. Sie hörten in einem geschützten Rahmen Positives von ihren Eltern, was in der Vergangenheit selten oder nie vorkam. Sie glaubten wieder mehr an eine positive Zukunft. Hoffnung entstand und treibt an.
Auch die Haltung des Teams änderte sich. Es wurde weniger über die Jugendlichen gesprochen. Es fand mehr Partizipation und Ressourcenaktivierung statt. Es führte zu einer wertschätzenderen Haltung im Team, es fiel leichter, Ressourcen zu sehen und aktiver zuzuhören. Mein Team fing an, mehr zu fragen statt zu sagen, eine nichtwissende Haltung einzunehmen und den Jugendlichen mehr zuzutrauen.

5. Hypothesen

  • Durch die Zurücknahme der PädagogInnen kann die Selbstwirksamkeit der Jugendlichen aktiviert werden, da sie nicht nur im HPG neue Verantwortung übertragen bekommen.
  • Die Jugendlichen können lernen, sich besser zu reflektieren und ihre Wünsche zu formulieren. Das Ohnmachtsgefühl und dass andere über sie bestimmen, verwandelt sich zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit.
  • Dadurch, dass mehr über Themen gesprochen wird, die gut laufen, können die Jugendlichen eine bessere vertrauensvollere Beziehung zu sich und den Erwachsenen aufbauen. Sie werden mutiger und selbstbewusster.
  • Jugendliche könnten ihre Eltern wertschätzender erleben, was vielleicht zuvor sehr selten vorkam. Ich vermute, dass bei der Intervention des EZK die Aufmerksamkeit auf die wirklichen Bedürfnisse der Jugendlichen gelenkt wird. Sie müssen sich die benötigte Aufmerksamkeit der Eltern/ PädagogInnen nicht mehr durch notwendige Verhaltensbesonderheiten (z.B. Selbstverletzungen) einholen.
  • Das Konkurrenzverhalten der Jugendlichen untereinander verringert sich, da sie den Fokus mehr auf sich selbst setzen. Es wird mehr über das gesprochen, was gut läuft, nicht wer sich traut, am tiefsten zu ritzen.
  • Die Hilfe ist wirkungsvoller, weil die Jugendlichen sich ihre Ziele selbst aussuchen können. Sie müssen keine Ziele mehr verfolgen, die Jugendamt oder Eltern für sie festlegen. Es kommt zu weniger Hilfeabbrüchen.

Juli 2024

Systemisches Arbeiten in der Migrationsberatung

Greta Röbe-Oltmanns absolviert derzeit ihre Weiterbildung zur systemischen (Familien-)Therapeutin an unserem Institut. Sie hat in einem sehr interessanten Artikel die Möglichkeiten systemischer Arbeit in der Migrationsberatung erläutert und reflektiert.

Der Artikel beschäftigt sich mit den Möglichkeiten des systemischen Arbeitens in der Migrationsberatung von Personen, die erst vor kurzer Zeit nach Deutschland geflohen sind. Dabei umfassen die Überlegungen sowohl psychosoziale Beratung als auch migrationsspezifische Fachberatungen. In der Migrationsberatung ist eine rassismuskritische Haltung entscheidend. Diese weist eine Überschneidung mit der systemischen Haltung auf und beide Ansätze bereichern sich gegenseitig, was im Lauf des Artikels immer wieder verdeutlicht wird. Nachfolgend wird zum einen auf verschiedene Aspekte systemischer Haltung eingegangen, die in der Migrationsberatung zentral und gewinnbringend sind, und zum anderen auf Methoden, die sich in der Praxis als unterschiedsbildend bewährt haben. Wertschätzung, Neutralität, Konstruktivismus und Lösungsorientierung werden als Aspekte systemischer Haltung thematisiert. Des Weiteren wird auf die Methoden Anliegen – und Auftragsklärung, Anwendung einfacher Sprache, visuelle Methoden, zirkuläre Fragen und Reframing eingegangen.

Hier geht es zum Artikel.

Welche Frage(n) stellt Dir das Leben? Einzel- und Teamsupervision – ein Resonanzraum an den Herausforderungen und Zumutungen von Beruf und Leben zu wachsen

Welche Frage(n) stellt Dir das Leben?

Diese Frage von Viktor Frankl* ist eine der besonderen Fragen, die ich als Supervisorin, Coach, Lehrende in Weiterbildungen und auch persönlich in herausfordernden Situationen zur Selbsterkenntnis sehr schätze und nutze.

„Wir sind jeweils die Gefragten, das Leben ist es, das uns Fragen stellt.
Die Antwort auf die Fragen müssen wir geben.“

Nicht selten irritiert, verwirrt sie im ersten Moment des Zuhörens. Als Supervisorin gilt es, diese Spannung und Erwartungserwartungen wie auch Äußerungen von Supervisand:innen zu halten:
„Mein Leben, die Arbeitssituation (…) ist nicht so, wie ich denke, sie sollte, müsste sein, damit ich ein glückliches Leben führen kann, die Zusammenarbeit gelingt, die Arbeit als sinnvoll erlebt wird (…) Wenn die anderen nicht so wären, wie sie sind, wie glücklich, zufrieden könnte mein Leben sein (…) Die Veränderung muss von außen kommen, ich kann gar nichts machen.“

Im zweiten Moment lädt diese Sichtweise von Viktor Frankl zum Innehalten ein, spielerisch und nur probehalber mal eine ganz andere Perspektive einzunehmen (nur mal angenommen…). Lädt ein still zu werden, es sich auf einer tieferen Ebene wert sein, sich selbst zuzuhören, die eigenen Gefühlen, Gedanken(muster) wahrzunehmen; eine Umstülpung gewissenmaßen also von der Außenraumwahrnehmung weg hin zu einer Innenraumwahrnehmung des Selbst.

In einer sich so entwickelnden Nachdenklichkeit kann ein weiter Resonanzraum entstehen, der von offenen Herzen, Humor, Mut, Mitgefühl, dem Wunsch nach Veränderung und dem Willen, mehr verstehen zu wollen, getragen ist.

Ich erlebe in solchen Momenten auch, dass auf einer tieferen Ebene die Frage nach dem eigenen sinnerfüllten Handeln und glücklichem Sein auf unserem Planeten in den Raum eintritt. Ebenso die Bereitschaft, die innere Verbindung zu sich aufzunehmen, sich selbst zuzuhören, das Gehörte und Wahrgenommene anzuerkennen, Resonanzen daraus entstehen zu lassen, die Selbstverantwortung zu klären und zu stärken.

Ebenso Resonanzen zur (Lebens)Freude und Sinnerfüllung in der Arbeit, zum eingebettet sein im Team, zur eigenen Bereitschaft und Fähigkeit zu kooperieren, zur Arbeitsaufgabe als Verbindung stiftendes Dritte in der Zusammenarbeit, zur eigenen Work-Life-Balance oder zur Abgrenzungsfähigkeit.

So kann die Frage von Viktor Frankl in als belastend erlebten Lebens- und Arbeitssituationen einen Beitrag leisten, einen wirksamen, förderlichen Umgang mit den Zumutungen der Arbeit und des Lebens zu entwickeln, eine Reise zu sich selbst zu starten oder zu vertiefen, in der Teamsupervision einen Geschmack von „der besonderen Kraft des Wir-Bewusstseins“ (Otto Scharmer) zu bekommen.

*Viktor Frankl, Psychiater, Neurologe, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse.

Und nun meine Frage an Dich/Sie:
Welche Frage(n) stellt Dir/Ihnen das Leben?

Annette Springmeier aus dem Weiterbildungsteam

Emotionsbasierte systemische Therapie in der Jugendhilfe

Emotionsbasierte systemische Therapie in der Jugendhilfe – Ausstiegsoptionen aus destruktiven Erlebens- und Verhaltensmuster
ein Artikel von Anette Leibold
Anette Leibold arbeitet in der Sozialpädagogischen Familienhilfe, ein Kontext, der in aller Regel von Faktoren sozialer Kontrolle gekennzeichnet ist. In einer Fallvignette, gerahmt von praxeologischen Überlegungen, zeigt Anette Leibold, wie das Konzept der emotionsbasierten systemischen Therapie, entwickelt von Elisabeth Wagner und Ulrike Russinger, in der ambulanten Familienarbeit zur nützlichen Anwendung kommen kann.

Den Artikel können Sie hier lesen.

Pflicht zur Selbstfürsorge – Psychische Gesundheit von Psychotherapeuten

Sabine Rehan-Sommer und Annette Kämmerer sind niedergelassene Psychotherapeutinnen. In ihrem Artikel, erschienen im Dezember 2020 im deutschen Ärzteblatt, beleuchten sie kenntnisreich die vielschichtigen Risikofaktoren für die psychische Gesundheit dieser Berufsgruppe. Sie schreiben z.B. „Therapeut und Patient stehen innerhalb der therapeutischen Beziehung in einem intensiven, sich gegenseitig beeinflussenden emotional-kognitiven Interaktionsprozess. Beide Personen werden sowohl in ihren grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen als auch in ihren aktuellen Lebensthemen berührt“.
Hier können Sie den kompletten Artikel lesen.

Spannungskompetenz - freudevoll leben und wirkmächtig sein

In aller Regel erleben wir Spannungszustände als unangenehm. Annette Springmeier postuliert in Ihrem Beitrag Spannung als notwendiges Erleben für Veränderungsprozesse und formuliert mit dieser Betrachtungsweise einen Rahmen, der neue Optionen für Veränderung und Wachstum ermöglicht. Hier der Beitrag:

In letzter Zeit fokussiere ich vermehrt in meiner Arbeit als Supervisorin in Supervisionsprozessen bei der Bearbeitung von Anliegen das Thema Umgang mit Spannung: Spannung gerahmt als unangenehme Begleiterscheinung im Umgang mit einer herausfordernden Situation, einem Problem mit sich selbst oder anderen oder einem Konflikt, Spannung die sich lösen möge, wenn das Anliegen hilfreich bearbeitet worden ist. Spannung auch in der Rolle als Beraterin oder Supervisorin, einzelne Menschen, Familien, Teams … z.B. in einem Wandlungsprozess mit hohem Spannungsniveau, beschrieben als Krise, Konflikt … , zu begleiten mit ungewissem Ausgang. Die Spannung, die Ungewissheit der weiteren Entwicklung zu halten und trotz allem zuversichtlich zu bleiben. Und dies auch und gerade wenn das System sich sozusagen ganz nah an der Kante zu bewegen scheint und ein kleiner Impuls, eine kleine Intervention zu kaum noch zu steuernden Turbulenzen führen könnte. Die Dynamik von Wandlungsprozessen wird von der spannungsreichen Energie getragen: das Alte passt nicht mehr, das Neue ist noch nicht da. Nur mit dem nächsten kleinen Schritt ins Ungewisse hinein gestaltet sich das Neue, die Zukunft. Dieser nächste kleine Schritt, Muskeltraining für das Wagen, den Mut zum Neuen. In den Zeiten der Pandemie zudem ein hochaktuelles Thema und das nicht nur individuell, sondern kollektiv global gesellschaftlich.

Wie Gunther Schmidt so trefflich formuliert, die Aufmerksamkeitsfokussierung bestimmt, was wir erleben.
So bin ich selbst in diesen scheinbar angehaltenen Zeiten und Welten der Pandemie in einem Wandlungsprozess und darf ich an mir ebenfalls erleben, welche Bedeutung Spannung für Veränderungsprozesse hat. Was für einen Unterschied macht es in der Haltung als Mensch, als Supervisorin gerade auch in Zeiten der Pandemie, Spannung als wesentliches Element von Entwicklungsprozessen anzuerkennen.

In Beratungs- und Supervisionsprozessen ist eine wesentliche Qualität, die zum Gelingen von Beratungsprozessen beiträgt, die Fähigkeit, die Spannung von Ungewissheit halten zu können. Eine Spannungskompetenz zu entwickeln zu deren Essenz gehört, die hohe Bedeutung, die Spannung für Entwicklung hat anzuerkennen sowie die Fähigkeit, sie in freudevollere Spannung wandeln zu können, so dass Entwicklung möglich wird.
Und zugleich die Menschen, die zu uns kommen zu ermuntern und zu befähigen, Spannung als Weckruf für Veränderung zu betrachten. Und mehr sogar noch, wenn ich an Martins Bubers Aussage denke,

Weltspannung leben ist die hohe Probe unseres Seins.

Er schreibt, wir leben umso wirkhafter, umso ichhafter, je größere Spannung wir verwirklichen. Je ressourcenreicher dabei das Umfeld ist, umso mehr sind Spannungen aushaltbar. Für Supervisions- und Beratungsprozesse die Frage z.B. wie können Ressourcen in spannungsaufgeladenen Beratungssystemen so erhöht werden, dass man und frau sagen kann „schöne Spannung“, packen wir es an!
Das es sogar möglich wird, sich zu überlegen, in welche Spannung möchte ich mich stellen, dass ich meinen Teil von Entwicklung mit drin habe.

Ohne an dieser Stelle weiter auf die kollektive globale Weltspannung aufgrund der Pandemie einzugehen, bietet die Pandemie uns doch individuell und kollektiv global viele viele Gelegenheiten zu überlegen und zu entscheiden, von welcher Entwicklung wir Teil sein möchten. In welche Spannung wollen wir uns bewusst hineinstellen?
Supervision und Beratung ist ein „sicherer“ Ort, wo es möglich ist, Menschen zu ermuntern, sich mit der eigenen Spannungskompetenz anzufreunden, sie zu trainieren und positive Effekte im Umgang miteinander unmittelbar erleben zu können.

Dazu ist es als ersten Schritt aus meiner Sicht zentral, als BeraterIn, als SupervisorIn die eigene Spannungskompetenz in das GewahrSein zu nehmen. Wie reagiere ich auf Spannungen, welche Gefühle, Impulse, Bilder … lösen Spannungen in mir aus. Und danach einen Schritt weiter zu gehen und die zu beratenden Menschen, Systeme und ihren Umgang mit in die Beobachtungsperspektive zu nehmen, Interventionen in Richtung Spannungskompetenz zu sezten.

GewahrSein für die eigenen Gefühle und damit ganz im gegenwärtigen Augenblick zu sein, also immer wieder im Jetzt und Jetzt und Jetzt … zu sein, freundlich zu sich selbst sein und die eigene Ausrichtung sind eine wesentliche Grundlage, um in Spannungfeldern mutig handlungsfähig zu bleiben.
Viel Freude und inspirierende Erkenntnisse bei der Selbst –und Fremdbeobachtung und viele schöne Spannungen wünscht euch

Annette Springmeier aus dem Weiterbildungsteam

Die Bedeutung der Kontextualisierung in der systemischen Beratung

In seinem Artikel reflektiert Hans-Hermann Miest seine Arbeit als psychosozialer Mitarbeiter bei einem Elternhilfeverein für krebskranke Kinder und zeigt auf anschauliche Weise, wie hilfreich und notwendig die stetige Kontextualisierung professioneller Hilfe ist.
Den Artikel können Sie hier lesen.

Trauma ist nicht alles - Ein Mutmach-Buch für die Arbeit mit Geflüchteten

Reddemann, L.; Joksimovic, L.; Kaster, S.D.; Gerlach, C.; Klett-Cotta, Stuttgart, 2019
Buch-Rezension von Andreas Wahlster

„Das Thema Flucht und Vertreibung ist überall präsent“. Klaus Ottomeyer, emeritierter Professor für Sozialpsychologie aus Klagenfurt, beschließt mit diesem Satz sein Vorwort und markiert gleichzeitig den Rahmen zu diesem in vielfacher Weise eindrücklichen Buch.
In der Einleitung verknüpfen die Autor*innen die deutsche Vertriebenengeschichte nach dem zweiten Weltkrieg mit dem gegenwärtigen Umgang mit geflüchteten Menschen, ebenso betonen sie die Universalität von Trauer, Freude, Schmerz jenseits kultureller Prägungen.

Die Autor*innen haben das Buch in vierzehn Kapitel gegliedert, versehen mit anschaulichen und hinweisgebenden Überschriften, die der Leser*in Orientierung und Einstimmung zugleich bietet.
Die ausführlichen Fallvignetten geben einen differenzierten Einblick in die Vielfalt psychotherapeutischer Arbeit in unterschiedlichen Kontexten wie Praxis, Klinik, Altersheim. Sie beinhalten ebenso die jeweilige Reflexion erlebter Irritationen mit dem „Fremden“ in der therapeutischen Arbeit, sei es kulturell bedingt oder als Lösungsversuch von Patient*innen, mit den traumatischen Erinnerungen zurecht zu kommen. Beispielhaft sei hier die Herausforderung genannt, es als therapeutischer Profi auszuhalten, dass Patient*innen (auch) weiter leiden, gerade weil sie überlebt haben und sich dafür schuldig fühlen. Dass die therapeutische Arbeit mit geflüchteten und traumatisierten Menschen die Kooperation mit anderen Helfer*innensystemen sowie manchmal die Übernahme von sozialarbeiterischen Aufgaben notwendig macht, darf als Essential dieser Form psychotherapeutischen Handelns betrachtet erden.

Ganz im Sinne der Untertitelung als Mutmach-Buch wollen die Autor*innen einladen und ermutigen, die psychotherapeutische Arbeit mit geflüchteten Menschen zu wagen. So beginnen sie alle Kapitel mit dem Untertitel: Was Sie erwartet und bereiten so die Leser*in darauf vor, was sie in diesem Kapitel erfahren wird. Eine kluge Idee.
Das Buch zeigt seine Qualität weiter mit den Kapiteln über Therapieübungen, über die Bedeutung von Ernährung, den Umgang mit Geschenken von Klient*innen und der Bedeutung von Netzwerkarbeit nebst einem Verzeichnis von Kontaktstellen und Internetadressen.
Luise Reddemann beleuchtet im abschließenden Kapitel kenntnisreich und ebenso eindringlich die Auswirkungen der Folgen des zweiten Weltkriegs, Flucht und Vertreibung auf unsere Gegenwart.

Das Buch erfüllt mehr als seinen Zweck. Es macht nicht nur Mut, es berührt und sensibilisiert zugleich und lässt uns gewärtig werden, wie sehr wir privilegiert leben in einem Land, das seit mehr als 75 Jahren keinen Krieg mehr erlebt hat. Das bedeutet Glück und Verpflichtung zugleich.
Sehr gerne empfehle ich dieses Buch zum Lesen, Innehalten und engagiertem Handeln.

Offener Dialog – Bedürfnisangepasste Behandlung in der psychiatrischen Versorgung

Die Geschichte der klassischen Psychiatrie in der Behandlung von Psychosen ist eine lange Geschichte des Scheiterns eines medizinisch-biologischen Erklärungsmodell zur Genese von Psychosen. Auch unzählige Studien konnten die Hypothese der biologische Ursache nie wissenschaftlich valide erhärten, dennoch liest man im Netz immer wieder solche oder ähnlich lautende Sätze: „Unbehandelt kann eine Schizophrenie für Betroffene und ihr Umfeld sehr gefährlich sein. Eine frühe Therapie mit speziellen Medikamenten ist daher äußerst wichtig!“ Marian Grosser, Arzt (https://www.netdoktor.de/krankheiten/schizophrenie/ Zugriff: 07.10.2020).

Die sozialpsychiatrische Bewegung in den Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts setzte sich zwar sehr für eine Humanisierung der Anstaltspsychiatrie ein, stellte hingegen das medizinische Krankheitsmodell nicht in Frage.

Dass es auch andere Optionen gibt, zeigte u.a. die sog. Heidelberger Gruppe um Helm Stierlin, Arnold Retzer, Gunthard Weber, Gunther Schmidt und Fritz Simone in den frühen Neunziger-Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie haben die Wirksamkeit von systemisch-familientherapeutischen Behandlungsansätzen in einer Katamnese-Studie eindrucksvoll belegt. Arnold Retzers Buch „Systemische Familientherapie der Psychosen“ (Hogrefe Verlag 2004) erzeugte in der Fachöffentlichkeit eine starke und durchaus kontroverse Resonanz. Siegfried Alexander Henzl hat es für die Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung rezensiert und kam damals zu diesem Fazit: „Ein Buch, das herkömmliche Vorstellungen über Therapie psychotischen Verhaltens in Frage stellt und versucht, die aus einer mit Mythen belegten Tradition erwachsenden Hintergründe im Umgang mit Psychosen aufzuweichen.“
Nachhaltige Auswirkungen auf die Behandlung von Psychosen in der stationären und ambulanten Psychiatrie hatte diese Ergebnisse dennoch nicht.

Dennoch: Ein Blick über den Zaun nach Finnland lohnt sich. Der schon seit vielen Jahren erfolgreichste Ansatz in der Behandlung von sog. Psychosen wird dort seit den 80er Jahren praktiziert. Aus einer Unzufriedenheit mit den Behandlungsergebnissen bei Psychosen in den 80- Jahren in Turku/ Finnland wurde unter Leitung von Yrjö Alanen die bedürfnisangepasste Behandlung (Need Adapted Treatment) entwickelt, die psychodynamische Überlegungen aufgriff und dann zunehmend Ideen und Vorgehensweisen aus der systemischen Therapie integrierte, was dann von Tom Andersen (das reflektierende Team) und Jaakko Seikkula (Netzwerkorientierung) zum Open Dialogue weiterentwickelt wurde.

Dieses Konzept markiert einen Paradigmenwechsel in der psychiatrischen Praxis. Es wird deutlich, dass die Haltung der psychiatrischen Mitarbeiter*innen in Verbindung mit einer systemischen Sichtweise auf sog. psychiatrische Störungsbilder den entscheidenden Unterschied macht. Diese zentralen Annahmen und Grundhaltungen rahmen das Konzept:
• Psychotische Sinnfindung ist Sinnfindung
• Psychosen sind Ausdruck problematischer zwischenmenschlicher Beziehungen
• Das Miteinandersprechen soll ermöglichen, dass für etwas Unaussprechliches Sprache gefunden werden kann
• Psychose weist auf ein (unlösbares) Dilemma hin
• Die Kooperation mit der Patient*in und ihren Angehörigen ist Grundlage jeglichen Handelns

Zu diesem Modell gibt es bei youtube einen sehr eindrücklichen Film zu sehen.
In Deutschland hat sich Volkmar Aderhold sehr um die Verbreitung dieses Konzeptes verdient gemacht, hier geht es zu einem Interview mit ihm vom Juli 2016.

 

Erlebnisse und Erfahrungen während der Corona-Schulschließung der Klasse 5a

Kinder schreiben über ihre Erfahrungen mit „Corona“. Ernst, lustig, traurig, klug, zum Nachdenken anregend. Alles Kinder aus einer fünften Schulklasse aus Kassel. Die Kinder, die diese Berichte verfasst haben sind zwischen 11-12 Jahre alt. Wir danken der Lehrerin für ihre schöne Idee und für die Möglichkeit der Veröffentlichung und wünschen viel Spaß beim Lesen.

Kinder-Berichte zum Thema Corona

Weitere Berichte von Kindern zum Thema Corona können Sie in einem Videointerview bei unseren systemischen Videos ansehen.

„Planken besorgen für das Gehen auf Wasser“ - Systemische Notiz zu Covid-19

Klug, kenntnisreich, reflektierend! Mirja Winter (Redaktion SYSTEME) stellt Fragen an Wolfgang Loth:

lesen Sie hier das Interview

Innehalten und nach innen lauschen - Annette Springmeier eröffnet Pfade, die Krise zu nutzen

Auch wenn es mittlerweile wieder einige Lockerungen gibt, so scheint doch noch immer in vielen Bereichen die Welt still zu stehen, entschleunigt zu sein. Sie ist nicht mehr voller Angebote und Anreize zu Aktivitäten und Betriebsamkeit. 
Mit ihrer Stille lädt sie uns auch ein, selber innezuhalten, still zu werden und uns nach innen zu wenden. In Supervisionen und Coachings wird aktuell deutlich, dass diese Zeit des gebotenen Rückzugs auch wie ein Brennglas erlebt wird:

Ein Brennglas ausgerichtet einerseits auf all die Schätze, die wir im Laufe unseres Lebens entwickelt und entfaltet haben, verbunden mit tiefer Dankbarkeit und Freude.

Und andererseits ein Brennglas ausgerichtet auf die offenen Themen, Konflikte, inneren Haltungen, Glaubenssätze, die wir ebenso im Laufe unseres Lebens angesammelt haben und das ein oder andere Mal ‚erfolgreich’ haben beiseiteschieben können.

Oft sind es Themen, die uns heute nicht mehr hilfreich sind, die wir als Zumutung, als Schmirgelpapier erleben, das uns wund reibt. Themen, verbunden mit Bewertungen, unausgesprochenen Erwartungserwartungen, die wir im Gespräch mit uns selbst bzw. mit anderen nicht auf ihre Stimmigkeit hin überprüfen.
Metaphorisch gesehen dient Schmirgelpapier ja auch dazu, all die harten Kanten des Lebens zu schmirgeln, fein zu polieren, zu wandeln hinzu einer freundlichen, mitfühlenden Beziehung mit sich selbst und mit anderen Menschen.
Das meint, bei aller erlebten Zumutung, die wir beim Schmirgeln erleben, könnte es vielleicht auch hilfreich sein auf das Gute im Schlechten zu gucken? Darauf, dass unsere innere Weisheitsinstanz, unsere Selbstorganisation uns vielleicht einlädt, uns weiter zu entwickeln, innerlich freier zu werden, um mit leichterem Gepäck, in Freundlichkeit mit uns und anderen auf unserem Lebensweg weiter voran zu schreiten?

Nur mal angenommen, um mit Gunter Schmidts Worten zu sprechen „wenn es der Fokus der Wahrnehmung ist, der unser Erleben bestimmt“, könnten die aktuellen Herausforderungen dann nicht auch als Weckruf zur Weiterentwicklung betrachtet werden, der eine gute Möglichkeit zur Selbsterforschung bietet? 

Was ist der Sinn, der Purpose in meinem Leben,  
was ist für mich gutes Leben,
was ist schon alles gut, wofür bin ich dankbar,
was ist jetzt nicht mehr hilfreich, erlebe ich als Zumutung,
wovon möchte ich mich verabschieden, was unterlassen,
was will ich lernen, vertiefen, erfahren,
was habe ich in diesen Zeiten schon neu entwickeln können,
wie meine Kreativität, meine Qualitäten leben, verwirklichen,
was soll mein Beitrag für das Ganze sein …

Man könnt diese Selbsterforschung für sich alleine oder auch zusammen virenfrei virtuell … mit (einem) vertrauten Menschen machen …  
Man kann sich dabei auch von ihrer/seiner Kreativität inspirieren lassen und malen, schreiben, singen, performen … In einer solchen Situation, wo ich mich vor kurzem arg geschmirgelt gefühlt habe, ist z.B. das Bild oben entstanden. Es erinnert mich nun, statt sorgenvoller Gedanken, auf eine ganz andere Weise und in großer Dankbarkeit an ein Herzensthema, für das ich mir von mir selbst einen stetigeren, freudevoll-zuversichtlichen Umgang wünsche. (Inspiriert ist das Bild übrigens von einem Kartenset von Esther und Jerry Hicks)

In diesem Sinne bleiben wir weiterhin gesund und frohen Mutes! Wünschen wir uns spannende und nachhaltig-inspirierende Erfahrungen.
Annette Springmeier im Mai 2020

Buchtipp: Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe – Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit

Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit

Das neue Buch von Heiko Kleve wird vom herausgebenden Carl Auer Verlag „als notwendige Provokation“ angekündigt. Prof. Dr. Werner Bruns, Senior Fellow der Rheinischen FH Köln bezeichnet das Buch gar als “grossen Wurf“ und Vorschlag zum Paradigmenwechsel in der sozialen Arbeit.

„Vergesst die Methoden! Auf die systemische Grundhaltung kommt es an!“ – ein Artikel von Heidi Müller

Die Autorin beleuchtet ihr Verhältnis zur systemischen Haltung im Kontext Schule, illustriert an 2 Beispielen von Arbeiten mit Schülern. Hierbei spielen insbesondere Aspekte der Kontextsensibilität, des Spannungsfeldes Beratung und Kontrolle sowie der Ressourcen eine Rolle.

Den Artikel finden sie hier.

Die Hoffnung stirbt zuletzt ODER „Hör nicht immer auf Dein Herz“ – Neutralität in der Paartherapie von Ute Sauerzapf

Ein Beitrag von Ute Sauerzapf, Lehrtherapeutin am KI

In der Vergangenheit habe ich mich in der Arbeit mit Paaren manchmal dabei beobachtet, dass ich dazu tendierte, das Zusammenbleiben von Paaren als unterstützenswerter anzusehen, als die Möglichkeit einer Trennung.

In der Zwischenzeit hat sich das verändert. Nicht dass ich jetzt Trennung forcieren würde, nein – aber verändert hat sich, dass ich heute eine Trennung durchaus auch als „gute Lösung“ ansehen kann, wenn dadurch unbekömmliche und anscheinend nicht veränderbare Muster zwischen Paaren beendet werden können.

Der Anstoß kam unter anderem durch ein Buch mit dem knackigen Titel „Trennt Euch!“ von dem Autor Thomas Meyer. Dieser stellt in seinem kleinen aber feinen Büchlein die Idee vor, dass es jenseits von Liebe sowohl passende als auch nicht passende – kompatible oder inkompatible Beziehungen gibt.

„Jenseits von Liebe“ bedeutet, dass Liebe allein eine Beziehung (leider) nicht passend und kompatibel macht, sondern dafür noch andere „Zutaten“ wichtig sind. Merkmale einer nicht-passenden Beziehung sind aus seiner Sicht und Erfahrung unter anderem:

  • sich gegenseitig immer wieder Rätsel aufzugeben und darüber abendfüllend zu sprechen
  • dabei leider keine wirklich nachhaltige Verständigung zu erlangen
  • sich nicht richtig wohl mit dem Partner oder der Partnerin zu fühlen, sondern stattdessen immer wieder Fluchttendenzen zu verspüren
  • unterm Strich einfach „keinen Frieden“ in der Beziehung zu erleben in dem Sinne, das ein Gefühl von Verständigung, Geborgenheit und damit auch Sicherheit entsteht. Unglücklicherweise ist das „Nicht-passen“ aber kein Grund sich nicht zu lieben! Im Gegenteil – nicht passende Paare können sich durchaus heiß und innig lieben, eine leidenschaftliche und hochbefriedigende Sexualität miteinander teilen und den Wunsch und die Vision einer glücklichen Zukunft miteinander teilen. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund dafür, dass diese Paare oft unermüdlich darum kämpfen die Beziehung so zu verändern, dass es endlich besser werden möge. Gerne wird dem Partner / der Partnerin erzählt, was diese(r) doch bitte ändern möge, damit dann endlich alles gut sein kann. Oft fehlt ja auch in der Tat nicht viel, was ein Ringen um diese Veränderung plausibel erscheinen und beide lange durchhalten lässt.

Aber, wenn es nicht passt, dann passt es nicht – und kann, so Meyers These, auch nicht passend gemacht werden. Weiter führt er in seinem Buch die Idee von einem „weisen Kern“, manche nennen ihn auch „innere Weisheit“ oder Intuition ein, der „die Wahrheit“ spricht. Dieser lässt sich nicht beirren und weiß, was gut und richtig ist. Er meldet sich schon meist zu Beginn einer Beziehung und gibt uns Signale, ob „es passt“ oder nicht. Verliebt wie wir jedoch am Anfang einer Beziehung gerne sind, möchten wir auf ihn nicht hören, falls er „Warnsignale“ äußert. Außerdem ist seine Stimme recht leise, die des liebenden und vielleicht auch bedürftigen Herzens, die der Hoffnung und der Geilheit übertönen ihn leicht. Dennoch meldet er sich immer wieder – oft wenn es still ist.

Übrigens, schonen tut uns er uns, trotz seiner eher leisen Stimme nicht, er spricht stets die Wahrheit und manchmal hassen wir ihn dafür. Aber, er ist der beste Freund den wir haben, auch wenn er unbequem sein kann. Die gerne vertretene Sicht „auf das eigene Herz zu hören“ wird von Meyer in Frage gestellt. Er plädiert dafür, der Liebe an der Stelle nicht ALLEIN zu trauen, sondern nach anfänglichem Kennenlernen einen ehrlichen Austausch über Werte, Vorstellungen und Sinngebung einer Beziehung (Entwurf eines „Beziehungsvertrags“), Humor und Wohlfühlkriterien vorzunehmen. Auch zeigt er auf, aus welchen durchaus menschlichen Gründen Paare in inkompatiblen Beziehungen zusammenbleiben. Seine Antwort, die ich in meiner Arbeit ebenfalls wiederfinde lautet, dass es an erster Stelle, die Angst vor dem (Trennungs-)Schmerz ist. Diesen wie er schreibt „dornigen Weg durch das Gestrüpp des Trennungsschmerzes“ mag keiner gerne gehen – und deshalb bleibt man wo man ist und hört viel lieber auf die Hoffnung, die beschwörend spricht, dass „es doch gar nicht mehr so viel braucht, damit alles besser wird“. Und dann gibt es ja möglicherweise noch die Kinder, das Haus, das Geld usw.

Als systemische Therapeutin ist mir durchaus bewusst, dass diese Sicht von kompatiblen und inkompatiblen Beziehungen nur EINE Sicht ist .Dennoch kann sie für Paare hilfreich sein, die an der Wirklichkeitskonstruktion festhalten, die Liebe allein sei ein Zeichen dafür, dass es passt und deshalb ALLES dafür getan werden müsse die Beziehung zu erhalten. Auch könnte für diese Paare die Idee hilfreich und entlastend sein, dass Liebe allein nicht ausreicht um miteinander zu leben und glücklich zu sein. Für all jene Paare jedoch, die sich in passenden und kompatiblen Beziehungen befinden sei gesagt, dass sich für solche jeglicher Aufwand, jede Mühe und jede Investition lohnt, da sie wertvoll, keinesfalls selbstverständlich und laut Meyer, eher selten sind.
Fazit: Das Leben ist zu kurz für inkompatible Beziehungen.

Noch ein paar Sätze zu Thomas Meyer selbst:
Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Nach einem abgebrochenen Studium der Jurisprudenz ergriff er 1997 den Beruf des Werbetexters und begann gleichzeitig im Internet Kolumnen zu publizieren. Es folgten diverse Beiträge in Schweizer Nachrichten- und Autorenmagazinen. 2017 erschien sein Buch „Trennt euch!“, ein Essay über nichtpassende Beziehungen. Dieser Titel wurde wie vorangegangene andere Bücher von ihm, ein Bestseller und sorgt für viele angeregte Diskussionen über das Thema Liebe und Partnerschaft. Mit seiner These „Vier von fünf Beziehungen passen nicht und müssten sofort beendet werden“ sorgte Thomas Meyer in einem Interview für viel Wirbel. In seinem persönlichsten Buch „Trennt Euch!“ widmet er sich in Form des literarischen Essays diesen inkompatiblen Beziehungen. Scharfsinnig und mit hoher analytischer Gabe seziert Meyer aussichtslose Konstellationen und macht Mut, sich von seinem unpassenden Gegenüber zu trennen. Es gibt viele Büchern rund um Partnerschaft und Beziehung, die zum Kämpfen, Festhalten, Weitermachen in bestehenden Konstellationen raten. Meyers„Trenn Euch!“ macht Mut zu Trennung – WENN eine Beziehung nicht passt – und dann helfen oben genannte Bücher kaum.

Psychotherapie nach Flucht und Vertreibung – Buch-Rezension von Andreas Wahlster

Eine praxisorientierte und interprofessionelle Perspektive auf die Hilfe für Flüchtlinge.

Rezension von Andreas Wahlster (22.11.2018)

Die Herausgeber*innen haben sich einer Thematik angenommen, die im Feld der Psychiatrie und Psychotherapie bisher kaum behandelt wurde. Schon allein das ist verdienstvoll. Die Leser*in wird ein Fleißwerk in den Händen halten, denn „es ist ein Buch, das aus einer interpersonellen Perspektive für Psychotherapeut*innen und andere Helfer*innen in der Versorgung von Geflüchteten entwickelt und geschrieben wurde“ (Auszug aus dem Vorwort).

Sehr viel Recherche wurde geleistet, um hinreichend zu erfassen, welche unterschiedlichen Berufsgruppen in welchen Kontexten bei der Arbeit mit Geflüchteten Beiträge leisten. Insgesamt achtundzwanzig Autor*innen haben mit profunder Expertise Beiträge geleistet, die sowohl ein differenziertes Bild des Istzustandes zusammenstellen als auch Mindestanforderungen für eine humane, sozialpolitisch verantwortliche und fachlich fundierte (psychotherapeutische) Arbeit mit Geflüchteten formulieren.

Das Buch startet mit einem Überblick über Krisenherde und Flucht (Katharina Lumpp, Stefan Telöken), beschreibt die rechtlichen Rahmenbedingungen, z.B. die Genfer Flüchtlingskonvention, und informiert über die begrenzten Zugänge für Geflüchtete zum deutschen Gesundheitssystem. Die Arbeit mit Sprachmittlern ist eine zentrale Schlüsselstelle in der Arbeit mit Geflüchteten, sie wird u.a. im Abschnitt Sprachliche Verständigung und Arbeit mit DolmetscherInnen von Tom Hegemann kenntnisreich und anschaulich dargestellt. Von welcher herausragenden Bedeutung ein kultur- und machtsensibles Vorgehen in der Psychotherapie ist, wird im Abschnitt Interkulturelle Aspekte der Therapiebeziehung von Birsen Kahraman dargestellt, engagiert und mit viel Praxiserfahrung.

Monika Schröder und Ljiljana Joksimovic widmen sich dem Thema Institutionelle Einflüsse auf die psychotherapeutische Arbeit mit geflohenen Menschen. Sie legen nüchtern die vielen Barrieren des Zugangs zu Psychotherapieangeboten dar und formulieren sozusagen Hausaufgaben für Politik und die Institutionen der Gesundheitsversorgung. So erfährt die Leser*in, dass Deutschland geltendes europäisches Recht nicht umsetzt, schutzbedürftige Traumatisierte systematisch zu identifizieren und therapeutisch-medizinische Maßnahmen umzusetzen.

Das Kapitel Psychotherapeutische Unterstützung bei Traumafolgestörungen und psychischer Komorbidität beleuchtet zunächst die Diagnostik und stellt eine Palette von Therapieverfahren vor (Christoph Nikendei, Anja Greinacher, Martin Sack). Anknüpfend widmet sich Jan J. Kizilhan den spezifischen Situationen in der psychotherapeutischen Begegnung. Besonders haben mich hier die Themen der unterschiedlichen Symptomdarstellung und der kultursensiblen Diagnostik und Behandlung angesprochen. Etwas schade, dass in diesem Kapitel systemtherapeutische und traumapädagogische Konzepte für die Zielgruppe Kinder und Jugendliche, z.B. von A. Korritko und R. Jegodtka sowie P. Luitjens keine Erwähnung fanden.

Die Qualität dieses Buches zeigt sich weiter im Kapitel Lebensabschnitte. Die AutorInnen Esther Kleefeld, Anika Dienermann (Unbegleitete Kinder und Jugendliche) Maria Borsca (Familien) und Ahmand Bransi (Ältere Menschen) beleuchten die Dimension des altersspezifischen Zugangs zu geflüchteten Menschen.

Wie bedeutsam und gleichzeitig herausfordernd Vernetzung und Zusammenarbeit gerade in der Arbeit mit geflüchteten Menschen ist, stellt Maria Würfel aus der Perspektive der Sozialarbeit dar. Der Abschnitt Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren von Ferdinand Haenel erhellt die Besonderheiten bei der Exploration und formuliert dazu Anforderungen an das spezifische Fachwissen von GutachterInnen.

Es rundet den positiven Gesamteindruck dieses Buches ab, dass sich ein Kapitel den Belastungen und Selbstfürsorge der HelferInnen widmet (Judith Daniels, Antje Manthey, Christoph Nikendei, Benjamin Bulgay, Maria Borsca). Hier kommt zur Sprache, wie man der Gefahr einer sekundären Traumatisierung begegnet und wie notwendig Selbstfürsorge und Supervision sind.

Das letzte Kapitel beinhaltet einen Praxisleitfaden und Therapieführer, u.a. mit Adressen von Behandlungsangeboten und Beratungs- und Behandlungszentren.

Dieses Buch ist mit Fachwissen und großer Sorgfalt geschrieben und daher besonders empfehlenswert. Dazu tragen die Fülle von Quellenangaben und Verweisliteratur bei. Die vielfältige therapeutische Praxis wird jeweils mit Fallvignetten veranschaulicht. Das Buch zu lesen ist ein Gewinn, doch macht die Lektüre naturgemäß keine Freude. Es ist schwere Kost. Wenn dieses Buch nicht nur von den psychosozialen Fachmenschen in den verschiedenen Professionen, sondern auch von Politiker*innen gelesen wird, hat es seinen Zweck mehr als erfüllt, denn:

„Der erschwerte Zugang zur Psychotherapie für Geflüchtete ist vor dem Hintergrund ihrer vielfältigen traumatischen Erfahrungen und fortdauernden belastenden Lebensumständen kaum nachzuvollziehen, er ist dennoch eine gesellschaftspolitische Realität…..“

Zehn Thesen zur Systemtheorie der Emotionen – von Luc Ciompi, dem Pionier der Sozialpsychiatrie

Von Luc Ciompi (12.09.2018)

Luc Ciompi, Schweizer Psychiater, war von 1977 bis 1994 Professor für Psychiatrie an der Universität Bern und ärztlicher Direktor der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern und hat in dieser Zeit das Modell der SOTERIA (Interview mit Luc Ciompi: https://www.youtube.com/watch?v=GNLHTY9CeHw ) entwickelt, ein spezifisches therapeutisches Konzept zur Behandlung von schizophrenen Störungen. Im Zuge seines langjährigen wissenschaftlichen und alltagspsychiatrischen Wirkens hat er u.a. die sog. Affektlogik als Modell der Struktur der Psyche entwickelt. Ciompi hat dazu acht Grundthesen aufgestellt: (Auszug aus seiner homepage http://www.ciompi.com/de/affektlogik.html ):

  1. Emotion und Kognition wirken in sämtlichen psychischen Leistungen regelhaft zusammen
  2. Filter- und Schaltwirkungen von Emotionen beeinflussen ständig alle kognitiven Leistungen
  3. Gleichzeitig erlebte Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen verbinden sich im Gedächtnis zu integrierten, situationsabhängigen Fühl-Denk-Verhaltensprorammen (FDV-Programmen), die alles künftige Verhalten in ähnlichen Situationen beeinflussen
  4. FDV-Programme verschiedenster Grössenordnung sind die grundlegenden „Bausteine der Psyche“. Sie entsprechen typischen Systemen im systemtheoretischen Sinn, deren Gleichgewicht ständig durch positive oder negative Feedbacks aus der Umgebung stabilisiert oder gestört wird
  5. Das Gesamt von erfahrungsbasierten FDV-Programmen konstituiert individuumspezifische, familienspezifische, gruppenspezifische und kulturspezifische Fühl-Denk- und Verhaltensweisen bzw. Mentalitäten, Weltbilder, affektiv-kognitive Eigenwelten.
  6. Emotionen sind evolutionär entstandene, vital wichtige psychosomatische Zustände mit gerichteten bioenergetischen Komponenten (hin zu, weg von). t. Emotionale Energien sind die entscheidenden Motoren allen Denkens und Verhaltens. Fühl-Denk- Verhaltenssysteme beliebiger Grössenordnung werden durch Kognitionen strukturiert und durch Emotionen dynamisiert
  7. Kritisch steigende emotionsenergetische Spannungen können zu plötzlichen umfassenden Veränderungen (nichtlinearen Bifurkationen) der vorherrschenden Fühl- Denk- und Verhaltensmuster führen
  8. Affektiv-kognitive Wechselwirkungen sind selbstähnlich („fraktal strukturiert“) auf beliebigen individuellen und kollektiven Ebene

In einem Artikel für das systemagazin hat er nun seine bislang noch unveröffentlichten zehn Thesen zur Systemtheorie der Emotionen aufgestellt, die wir Ihnen und Euch hier gerne zum Lesen zur Verfügung stellen: http://systemagazin.com/zehn-thesen-zur-systemtheorie-der-emotionen/ . Sehr lesenswert.

Wie man Weiterbildung zum guten Ende bringt – Ein Lied zum Abschluss für Ingrid Voßler

von Ingrid Voßler (14.02.2018 )

Neulich am Ende der dreijährigen Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung stellte ich im letzten Seminar zum Thema „Wie man Beratungen und Therapien gut zu Ende bringt“ bewährte zirkuläre Fragen vor. Beispielsweise „Woran würden Sie merken, dass diese Beratung ihrem Ende entgegen geht?“ bzw. „Woran würde Ihr Mann merken, dass diese Beratung so gut wie beendet ist?“. Oder beispielsweise eine  rückfallprophylaktische Frage „Wenn Sie in der Zukunft den Eindruck haben sollten, es wäre gut, den Platz zwischen Ihren Eltern wieder einzunehmen, wie könnten Sie das machen?“

Neben den zirkulären Fragen arbeite ich auch sehr gerne mit Fragen, die zur Benennung von Wesentlichem einladen. Beispielsweise „Nennen Sie mir drei Dinge, die Sie gerne hier lassen möchten, wenn Sie gleich gehen“ oder „Was wollen Sie nicht mehr?“ Und ich habe eine persönliche Lieblingsfrage an meine KlientInnen oder Paare beim Abschluss des therapeutischen Prozesses und diese lautet: „Und wie werden Sie das jetzt feiern?“

Die KlientInnen reagieren darauf deutlich emotional. Sie sind überrascht, zeigen Freude, Rührung, positive Aufregung und realisieren in aller Regel in diesem Moment, dass ihnen etwas Bedeutsames gelungen ist, dass sie etwas für sie Wichtiges gemeistert haben. Eine Atmosphäre von Selbst – Bedeutsamkeit entsteht und viele Menschen bekommen tatsächlich Lust, dieses Ende einer Übergangsphase ihres Lebens angemessen zu feiern.

Bei der Planung von Abschluss-Seminaren einer Weiterbildung steht für mich – neben dem fachlich-inhaltlichen Part – genau diese Frage „Und wie werden wir diesen Abschluss jetzt feiern“ im Mittelpunkt. Im Vorfeld des Abschluss-Seminars ist deutlich, dass einige TeilnehmerInnen die emotionale Achterbahn, die möglicherweise mit den Themen „Abschluss und Abschied“ verbunden ist, lieber vermeiden würden. Andere kommen aus ritualarmen Familiensystemen oder haben sich aus guten Gründen für ein möglichst ritualfreies Leben entschieden. Hier nutze ich dann liebend gerne noch einmal die Chance im Weiterbildungsprozess einen Unterschied anzubieten.

Nun zurück zum Abschluss-Seminar der vergangenen Woche:

Dieses Mal hat die Gruppe mich total überrascht und sehr bewegt. Nach einem von mir geleitetem Abschluss-Ritual der Würdigung mit Zertifikatsübergabe, Blumen und Sekt gab es ein sehr leckeres Essen in Gruppenraum des Instituts.

Dann kam ein mich komplett überraschendes High-Light: Eine musikalische Darbietung der gesamten Gruppe, ein Lied zum Abschluss.

Damit brauchte die explizit noch gar nicht gestellte Frage „Und wie werden wir diesen Meilenstein jetzt feiern?“ nicht mehr strapaziert werden, wir hatten bereits in die Antwort hineingelebt, hineingefeiert.

Schön war’s. Mein ganz herzlicher Dank geht an die alle nun ehemaligen TeilnehmerInnen der Gruppe XXI.

Hier geht es zum Video.

Der Lied-Text der Gruppe ist hier zu lesen:

Einundzwanzig kleine Wölfe legten los vor drei Jahren Therapie, und zwar systemisch, wollten sie gern erfahren. Woran erkennt man bitteschön denn ein Problem? Man kann das alles schließlich auch ganz anders sehen! Perspektive wechseln, schnell! (Pfeifen) Wann wird´s in meinem Kopf denn nun mal endlich hell?

Einundzwanzig kleine Wölfe woll´n Systemiker werden, auf diesem Weg gibt es so manche Beschwerden. „Die Bücher müsst ihr alle gelesen haben!“ Nur so kommt ihr in den Genuss der Geistesgaben. Doch das Lesen ist so schwer! (Pfeifen) Wenn ich jetzt mit den Büchern nur schon fertig wär.

Drei Jahre trafen wir uns im Kasseler Institut, zum Lernen, Üben, Fragen stell´n, wir machten uns Mut. Oje, mein Kopf ist, glaube ich, schon wieder voll, wer macht denn heute bitte mal das Fotoprotokoll? Wenn nur schon Pause wär (Pfeifen) Spätestens um elf freut uns das Frühstück sehr.

Einundzwanzig kleine Wölfe wollten sich selbst erfahren, ne ganze Woche sind sie gemeinsam weggefahren. Zu zweit, in kleinen Gruppen oder in der Triade, Beschäftigte uns so manche große Frage Wenn´s mir nur schon heller wär (Pfeifen) Woran könnt ich merken, dass ich so klar wie Ingrid wär?

-Getextet und gesungen vom Abschlusskurs XXI-

Einwirkungen und Auswirkungen – Interview mit Claudia Kockrow, Absolventin unserer Weiterbildung Systemische (Familien-)Therapie und Beratung

06.12.2017

Andreas Wahlster (AW):

Ich freue mich, dass wir Gelegenheit haben, über deine Erfahrungen in der Weiterbildung zur systemischen Therapeutin zu sprechen. Für uns ist selten Gelegenheit, von Euch als den sog. Ehemaligen zu erfahren, welche Erfahrungen ihr während und nach der Weiterbildung gemacht habt.

Welches Erlebnis oder welche Begebenheit illustriert am besten deine Entwicklung in und nach der Weiterbildung?

Claudia Kockrow (CK)

Ich war extrem beeindruckt von der Weiterbildung. Ich war bereits viele Jahre zuvor mit dem systemischen Ansatz in Berührung gekommen, und die systemische Haltung war für mich in meinem Leben und Denken seither sehr zentral. Daher wollte ich unbedingt diese Ausbildung machen. Dabei dachte ich, ich lerne „Handwerkszeug“, wie man damit arbeitet. Dass ich dabei auf ganz wesentliche persönliche Themen stoße und sie so bearbeite, dass sich meine Lebensqualität, die ich eigentlich für ziemlich gut gehalten habe, deutlich hin zu einem ganz neuen Level entwickelt, hätte ich niemals erwartet.

AW:

Das bringt mich zu einer nächsten Frage: Auf welche Weise hat sich die Weiterbildung auf dein Leben ausgewirkt?

CK:

Ich bin wesentlich selbstsicherer geworden. Beruflich konnte ich vieles Neues entdecken und habe gelernt, dass Psychotherapie nicht „schwer“ sein muss, weder für den Patienten, noch für den Therapeuten. Heute gehe ich in den meisten Fällen mit mehr Energie aus meinen therapeutischen Sitzungen hinaus als ich hinein gegangen bin. Und das ist kein Film, der sich nur in meinem Kopf abspielt – die Patienten melden mir sehr Positives zurück.

Aber auch auf mein Familienleben hatte die Weiterbildung große Wirkung. Ich war bei vielen Themen sehr „verkrampft“, habe mir selbst starken Druck aufgebaut: Über viele Jahre war ich in verschiedenen Bereichen ehrenamtlich tätig. Bei sozialen Problemen dachte ich sofort: „Da musst Du doch was tun“, und es war wie ein Zwang, mich einzusetzen, was ich oft auch körperlich sehr unangenehm gespürt habe. Heute denke ich das auch noch, aber mit einer entspannteren Haltung. Das ist nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie sehr angenehm. Ich bin innerlich wesentlich ruhiger geworden. Und das genieße ich, es ist ein wunderbares Gefühl.

AW:

Was hat dich in der Weiterbildung überrascht?

CK:

Ich habe es schon angeschnitten, ich habe ehrlich eine ganz andere Lebensqualität. Die erste Selbsterfahrungswoche war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich habe dort viele Entdeckungen gemacht, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Nachdem ich ohne Erwartungen angereist war, hatte ich bei manchen Aufgabenstellungen am Anfang der Woche große Befürchtungen. Wie Ingrid (Ingrid Voßler) und Du damit umgegangen seid, das hat mich sehr berührt und beruhigt. Das durfte alles sein und ich bekam wieder Boden unter die Füße. Und dass Festes – was man gar nicht als Problem erkannt hat – sich löst, wie sich das anfühlt und welche Folgen das haben kann, war eine unglaubliche und sehr wertvolle Erfahrung!

AW:

Was glaubst du, woran konnten deine Klient*innen deinen Veränderungsprozess erkennen?

CK:

Ich probiere mehr aus, bin sicherer geworden bei dem, was ich tue, habe eine viel größere therapeutische Vielfalt, mit der ich mich auf den einzelnen Patienten einstellen kann. Und meine Kreativität hat sich entwickelt. Heute arbeite ich gerne mit Visualisierungs- und Körperübungen, eben allem, was mit Imagination zu tun hat, besonders auch mit Metaphern – dazu hatten wir ein wunderbares Seminar!

AW:

Was hat Dir in der Weiterbildung nicht so gefallen oder Dich gar gestört?

CK:

Der Wechsel der Lehrtherapeuten zum zweiten Jahr hin war für die Gruppe nicht einfach. Die Übergänge beim Wechsel der Lehrenden in den Weiterbildungsabschnitten achtsam zu gestalten ist ganz wichtig. Für uns Weiterbildungsteilnehmer*innen waren manche Übergänge ein kleiner ‚Kulturschock‘, mit zum Teil erheblichen Auswirkungen auf die Gruppendynamik. Das war in der akuten Phase sehr belastend. Im Nachhinein aber auch eine Erfahrung zu sehen, wie wesentlich die Beziehungsgestaltung von Lehrtherapeut zu den Lernenden ist, und welche Faktoren zu ‚Störwellen‘ führen können. Beeindruckend war, wie Du das mit uns als Gruppe aufgearbeitet hast, sodass wir wieder in einen konstruktiven Arbeitsprozess kommen konnten. Das lässt sich ja auch auf eigene therapeutische Prozesse oder andere berufliche Projekte übertragen und ist, letzten Endes, auch wieder eine sehr wertvolle Erfahrung.

AW:

Ich danke Dir für deine Rückmeldung und schließe an mit der Frage, was sollte als Weiterbildungsinhalt evtl. noch hinzukommen oder ersetzt werden?

CK:

Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir nach der Weiterbildung Gelegenheit zur Supervision bekämen. Der besondere Gewinn wäre dabei, dass sich die Lehrenden und wir bereits kennen und somit in einer vertrauten Atmosphäre arbeiten könnten. Es macht Sinn, dazu auch ehemalige Absolvent*innen direkt anzusprechen.

AW:

Was denkst Du, worüber sollten wir noch sprechen, was bisher noch nicht zur Sprache kam?

CK:

Hab ich einen Wunsch frei? Dann würde ich mir wünschen, dass Ihr noch das ein oder andere ‚Aufbaumodul‘ in Form eines die 3-jährige Ausbildung erweiternden Curriculums entwickelt – viele in der Gruppe hätten gerne weitergemacht mit der Weiterbildung. Es gab noch so viele spannende Themen, und die Qualität Eurer Seminare und die der von Euch eingeladenen Referenten war wirklich sehr gut. Ich habe da einigen Vergleich! Vielleicht auch im Blick auf die potentielle sozialrechtliche Anerkennung. Denn andere werden ein erweitertes Curriculum anbieten, egal wie man zur Kompatibilität von Systemischer Therapie und Abrechnung mit den Krankenkassen steht. Und dann fände ich ganz wichtig, dass klar vermittelt wird, dass das Systemische Denken eine Haltung ist, die man nicht wie einen Kittel vor seiner Sprechstundentür an- und beim Verlassen wieder auszieht. Die Gefahr, dass das untergeht, sehe ich leider, denn mein Eindruck ist: Nicht überall, wo „systemisch“ draufsteht, ist auch „systemisch“ drin. Und diese Haltung habt Ihr uns sehr eindrücklich vermittelt. Ein sehr großer Gewinn!

AW:

Liebe Claudia, herzlichen Dank für unser Gespräch.

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Die Macht der sanften Berührung.
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In diesem Vortrag von Claude-Hélène Mayer geht es um die Sensibilisierung für interkulturelle Themen und die Weiterentwicklung der eigenen interkulturellen Kompetenz, letztendlich eine Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und Identitätsaspekten

Dr. Claude-Hélène Mayer ist Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Systemische Therapeutin und Lehrtherapeutin (SG). Ihre Forschungsschwer-punkte sind: Transkulturalität und Gesundheit.